Vor knapp zwei Jahren hörte ich zum ersten Mal von La Flor, einem argentinischen Film mit einer stolzen Länge von 14 (!) Stunden. Aktuell ist das komplette, cineastische Mammutwerk in der Arte-Mediathek kostenlos verfügbar. Und ich habe mich daher an das gigantische Unterfangen der Sichtung herangewagt. Willkommen zur dritten und letzten Etappe des Marathons.
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Nach Teil 1 (Episoden I und II, 3 Stunden 34 Minuten) und Teil 2 (Episode III, 5 Stunden 27 Minuten) folgen im letzten der drei Teile die verbleibenden Episoden IV, V und VI.
¡Ándale!
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Episode IV
Sechs Jahre sind seit dem Beginn der Dreharbeiten vergangen. Regisseur Mariano Llinás hat irgendwie die Lust oder den Faden verloren. Oder beides. Seine vier Hauptdarstellerinnen (Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa und Laura Paredes) sind genervt. Gerade noch sollte ein in Kanada spielender Fantasyfilm mit Mounties und Indianern gedreht werden. Da holt Llinás eine weitere Produzentin an Bord und geht mit kleiner Filmcrew auf Reisen, um Bäume zu filmen, die ihn plötzlich zu faszinieren scheinen. Die Grenzen zwischen Film-im-Film und Realität verschwimmen. Als sich ein mysteriöser, übersinnlicher Vorfall ereignet reist ein Wissenschaftler, Professor Gatto (Pablo Siejo), aus der Ferne an, um die Sache zu untersuchen. Vier Männer sind durch ein traumatisches Erlebnis verrückt geworden, ein fünfter bleibt verschwunden. Dessen Spur verfolgt Gatto.
Ähnlich wie Episode III zuvor stellt IV eine eigenwillige, filmische Form eines Mosaikromans dar. Ein Spiel mit den Meta-Ebenen. Die Odyssee des Filmemachers in der Sinnkrise wird zum schweren Fall für einen Wissenschaftler, der seine Erkenntnisse und Erlebnisse in E-Mails an seinen besten Freund in den USA festhält, womit wir beim modernen Briefroman wären. Das eigentlich im Zentrum von La Flor stehende Schauspielerinnen-Quartett spielt hier nur eine Nebenrolle und bleibt doch irgendwie das Herzstück, vor allem in einer liebevollen Schlussmontage. Was hier allerdings im Verlauf alles an Elementen aufgetischt wird (u.a. Hexen, Bäume mit potenziellem Eigenleben, die Insassen einer Psychiatrie und ihre Geschichten sowie ein „verschollenes“ Fragment über Casanova) ist bisweilen an minimalistischer Abstrusität/Kuriosität kaum zu überbieten und sorgt dadurch auch für absurde Komik. Hab ich erwähnt, dass diese Episode 3 Stunden und 8 Minuten (inklusive einer dreiminütigen Pause) dauert?
Episode V
Nach einer etwa vierminütigen Pause und einem kleinen Intermezzo mit Regisseur Mariano Llinás, der sich für das bisherige Zuschauen bedankt, folgt die fünfte Episode. Es handelt sich um ein Remake des 1936 gedrehten und erst 1946 veröffentlichten französischen Films Eine Landpartie (OT: Partie de campagne) von Jean Renoir, nach einer Novelle von Guy de Maupassant von 1881. Eine alleinerziehende, irgendwie enthemmte Mutter und ihre Tochter, ein junges Mädchen, treffen an einem schönen Nachmittag in der Natur einen alleinerziehenden Vater und seinen heranwachsenden Sohn. Aber auch zwei Gauchos kreuzen ihren Weg. Gedreht im Stile alter Stummfilme und in Schwarzweiß. Nur zwischendurch unterbricht eine Flugschau mit Dialogen (wohlmöglich aus dem Originalfilm?) die Stille. Mit läppischen 42 Minuten hat „Ein Tag in der Pampa“ nur einen geringen Anteil (5 Prozent) am Gesamtepos. Und bildet vielleicht deswegen eine nicht unwillkommene Abwechslung. Die vier Hauptdarstellerinnen tauchen hier gar nicht auf. Nummer V ist außerdem die einzige Episode mit einem Anfang und einem Ende.
Episode VI
La grande final! Nur ist es gar nicht groß. Ganz im Gegenteil. Die letzte Episode ist mit 21 Minuten auch die kürzeste, sogar nur halb so lang wie Nummer V. Es wird lediglich das Ende einer Geschichte gezeigt. Im Amerika des 19. Jahrhundert konnten die englische Lehrerin Sarah Evans (Elisa Carricajo) und drei weitere Frauen – eine Kreolin (Pilar Gamboa) sowie eine Mestizin (Laura Paredes) und ihre Tochter (Valeria Correa) – nach zehn Jahren aus ihrer Gefangenschaft bei den „Wilden“ fliehen und sind kurz davor, in die Zivilisation zurückzukehren, in diesem farbigen Stummfilm mit Zwischentiteln, der durch seine unscharfen Bilder wirkt, als hätte man einen Streifen aus der Frühzeit der bewegten Bilder auf eine Leinwand geworfen. Man kann bei zwei so kurzen Episoden am Ende natürlich jetzt mutmaßen, dass den Beteiligten dieses so gigantischen Filmprojekts am Ende ziemlich die Luft ausgegangen ist. Aber man stelle sich mal vor, die letzten beiden Geschichten wären auch in Spielfilm- oder gar Überlänge! Dann wäre La Flor vermutlich 17 oder gar 20 Stunden lang! Bei näherer Betrachtung erweist sich dieser Schluss auch als absolut passend. Die letzten Kilometer bis zur Rückkehr in die Zivilisation sind für die vier Hauptdarstellerinnen das Ende einer langen, mühevollen Reise, nämlich der sich über 10 Jahre erstreckenden Produktion dieses 14-Stunden-Films. Zwei von ihnen sind schwanger. Man geht fortan getrennte Wege. Den Ausklang bildet der 38minütige (!) Abspann. Am letzten Drehtag fällt die letzte Klappe, Cast und Crew liegen sich in den Armen, bevor das Equipment eingepackt wird und alle die malerische Steppen-Location verlassen, bis nur noch ein Mann im Liegestuhl und ein Hund übrig sind.
Und nach 840 Minuten ist der vermutlich längste Episoden- bzw. Anthologie-film und der längste jemals in Argentinien produzierte Kinofilm zu Ende. Dass ich La Flor nicht beim sehr limitierten deutschen Kinostart Ende Juli 2019 auf der großen Leinwand erleben konnte ist zwar schade, aber durch die Sichtung der drei Teile an drei aufeinanderfolgenden Tagen (wie es von den Machern gewollt ist) kam es mir vor, als wäre ich auf einem Filmfestival, das wegen Corona nur online stattfindet (siehe die diesjährige Internationale Filmwoche Würzburg). Auf jeden Fall Hut ab vor Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes, den weiteren Darstellern sowie Autor/Regisseur Mariano Llinás und seiner über die Jahre hinweg personell zahlreichen Filmcrew! ¡Chapo!
Auch wenn ich sehr wahrscheinlich das Mammutwerk nie wieder komplett ansehen werde und es zwischenzeitlich immer wieder mal Längen gab so war es doch eine einmalige Erfahrung, 14 Stunden in eine mannigfaltige Zelluloidwelt einzutauchen, die nicht nur Horror/Mystery, Musik-Drama mit Gangsterfilm-Anleihen, Agentenfilm, Stummfilm sondern auch eine Meta-Satire übers Filmemachen aufgeboten hat, einzutauchen, dort zu verbringen. Was bleibt nach dem Sichtungsmarathon, außer großer Freude, dass man bis zum Schluss durchgehalten hat? Die Erinnerung an unfassbare lange Szenen ohne Schnitt, äußerst ruhige Kameraeinstellungen, schräge Figuren, eine über weite Strecken übertheatralische Musik und das ausdrucksstarke Gesicht von Elisa Carricajo, mit ihren königsblauen Augen.
Jetzt aber wieder schnell zurück ins richtige Leben, bevor mich die Hexen verfolgen! 😉
Einzelbewertungen
Episode I – 7/10
Episode II – 8/10
Episode III – 9/10
Episode IV – 8/10
Episode V – 7/10
Episode VI – 8/10
Aufgeteilt auf drei Videos ist der komplette Film La Flor noch bis 30.09.2021 in der Arte-Mediathek abrufbar sowie seit Januar 2020 auf DVD und BluRay erhältlich.
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La Flor
Anthologie-Epos Argentinien 2018. FSK o.A. 808 Minuten. OmdU. Mit: Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes u.v.a. Drehbuch und Regie: Mariano Llinás.
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Credits
Bilder (c) absolut MEDIEN